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2004: Dr. Fritz Billetter

2004, „Kraft des Lichts“, Prof. Fritz Billeter

 
Rede von Dr. Fritz Billeter anlässlich der Eröffnung
der Ausstellung in der Galerie Claudine Hohl in Zürich.

 
Meine Damen und Herren, liebe Freunde und liebe Gerdi.

»Was sind das für Zeiten, da man über Bäume nicht sprechen darf«, bedauerte Brecht. Darf man denn also Blumen malen, in einer Zeit der Folter und des Terrors, wie Gerdi Gutperle sie malt? Man darf es unter Umständen sehr wohl; es kommt darauf an, was die Künstlerin, der Künstler uns ›durch die Blume sagt‹. Die Besucher der Pàrt Galerie werden rasch merken, Gerdi Gutperle zieht sich, Blumen malend, nicht in einem vermeintlich geschützten, idyllischen Winkel zurück.

Auf Anhieb kommen mir zwei berühmte Blumenmalerinnen in den Sinn: Maria Sibylla Merian (1647 – 1717) und die kürzlich im Kunsthaus Zürich mit einer Retrospektive geehrte Georgia O’Keeffe (1887 – 1986). Sibylla Merian war Naturforscherin, Biologin, und sie nutzte ihr gestalterisches Talent, um ihre Entdeckungen und Beobachtungen zu illustrieren – dies zu einer Zeit, da sowohl Wissenschaft wie Kunst Männerdomänen, also den Frauen grundsätzlich verschlossen waren. Sie strebte, da sie ihre Kunst in den Dienst der Botanik gestellt hatte, äußerste Naturtreue an; aber gerade diese Akkuratesse geriet ihr zur Poesie. Gerdi Gutperle preist wie Sibylla Merian die Wunder der Schöpfung, aber mit anderen gestalterischen Mitteln – nicht mit klarer Umrisszeichnung und Präzision im Detail. Eine Gegenwelt zu Merian zart-strengen kolorierten Kupferstichen bildet Gutperles üppig wuchernde, aber gleichzeitig gezähmte »Kraft des Dschungels« (Bild Nr. 7) Ähnlich komponiert ist »Der Zufall trifft« (Nr. 15), ebenfalls in ein Hochrechteck eingepasst, mit offenen Kreisbändern, tief roten Wirbeln, nahe dem Chaos, nach unten abströmend.

Mit der Malweise von Georgia O’Keeffe hat Gerdi Gutperle mehr gemeinsam. Die Blumen der Amerikanerin erregten – wir können heute darüber nur staunen – an der Ostküste Skandal. Die amerikanische Gesellschaft stand in den 20er Jahren im Bann von Sigmund Freud. Sie entdeckte durch seine Nachhilfe die Sexualität und übte sich darin, ohne zu stocken über sie zu sprechen – und nun sah sie in den Blumen O’Keeffe lauter sexuelle Symbole, was diese, um sich ihre Freiheit als Künstlerin zu bewahren, standhaft abstritt.

Erotik und Sexualität finden wir auch in den Blumen von Gerdi Gutperle, und sie hat es heute nicht mehr nötig, solche Schutzbehauptungen aufrecht zu halten. Beiden Künstlerinnen haben ihre Blumen übernatürliche Größe verliehen. Gutperle steigert diese noch dadurch, dass sie die Kelchblätter häufig durch den Blickrand anschneidet, – ein Verfahren, das in der Fotografie geläufig ist – so dass ihre Blumen über den Bilderrahmen hinaus zu drängen scheinen. Selbst das Buschwindröschen (Nr. 26), in Wirklichkeit eine eher kleine, bescheidene Blume, entfaltet sich bei Gutperle mit Macht und Pracht. Sowohl bei O’Keeffe wie bei Gutperle heben sich Blumen oft dem Betrachter gleichsam entgegen. Er sieht sie aus leichter Aufsicht: sein Blick dringt ungehindert ins Innere, in die Tiefe, zu den Staubgefässen, den Fruchtknoten, das heißt zu denjenigen Organen, bei denen Assoziationen zur Sexualität sich aufdrängen.

Das ist aber nur der eine Aspekt von Gutperles Blumenbildern: ein anderer umfasst nicht das erdhaft – fleischliche, erotische Prinzip, sondern dessen Gegensatz, nämlich Entmaterialisierung, Vergeistigung. In der Ausstellung hängen neben einander: »Geistesfunkeln« und »Kraft des Lichts«. Es handelt sich beim zweitgenannten Werk um das Bild, dessen Reproduktion wir auf der Einladung zur Vernissage wieder finden. In beiden Bildern ist die Abstraktion sehr weit gediehen, die Übersetzung in ein fast eigenständiges Strukturgebilde, dem man die Blume als Ausgangspunkt nur noch knapp ansieht. »Kraft des Lichts«, in kühles, kosmisches Weiss, Grün, Blau getaucht, erinnert eher an eine Lichtfontäne, in seiner spröden Transparenz an ein übersprudelndes, gläsernes Gefäß, als an eine aus materieller Substanz bestehenden Blume. Bei »Geistesfunkeln« denke ich an eine Lichtsäule, die zu einem Kapitell als flammende Sonne aufsteigt, das die Wölbung des Kosmos stützt.

Es gibt in der Ausstellung drei Bilder, in denen die Abstraktion noch weiter als in den beiden erwähnten Beispielen getrieben ist: hier erblicken wir nur noch das Einbrechen eines überirdischen Lichtsturzes, von schräg oben her oder im spitzen Winkel, als wäre das Licht von einem Spiegel zurückgeworfen. Es sind keine Bilder von jener durchklärten, heiteren Spiritualität wie »Kraft des Lichts« oder »Geistesfunkeln«; es sind ernste, fast düstere Bilder, dennoch signalisieren sie Aufbruch, und sie heißen »Lichtwesen« und »Es wird Tag«.

Aufbruch wohin? Ich bringe diese Werkgruppe mit der Gründung der Gerdi Gutperle Stiftung zusammen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, an der östlichen Südspitze von Indien, im Bundesstaat Tamil Nadu ein Kindergesundheitszentrum zu errichten und zu betreiben. Am 16. Oktober, wenn ich recht berichtet bin, wird der erste Spatenstich erfolgen. Der Erlös von Gerdis Bildern fließt in die Stiftung; das in der Galerie aufgestellte Modell des Spitals nimmt das äußere Resultat, nämlich den Bau, für uns vorweg. Gerdi hat Ihnen soeben von all dem Weiteres erzählt.

An dieser Stelle möchte auch ich – nur ganz schüchtern, wie es sich heute geziemt – Gerdis Mann, den Unternehmer Werner Gutperle, erwähnen. Früher hieß es: hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau: heute gilt dieser Satz umgekehrt.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch folgendes anfügen: Das Gesundheitszentrum heißt offiziell »Agasthiya Muni Child Care Center«, Agasthiya ist ein Heiliger, von dem ich keine sicheren historischen Daten – auch nicht im Internet – gefunden habe. Er soll im 7. / 8. Jahrhundert v. Chr. in Südindien gelebt und gewirkt haben, in der Gegend also, in der das Care Center gegründet worden ist. Er ist ein Frommer der Veden, dieser ältesten, in Sanskrit geschriebenen heiligen Bücher Indiens. Zwischen 1200 bis 600 v. Chr. entstanden, umfassen sie Lieder, Zaubersprüche, Epen, Rituale, Regeln der Grammatik, den damaligen Stand der Etymologie und der Astronomie. Religion und Wissenschaft lagen damals nahe beieinander. Man muss sich Agasthiya als Theologe, Arzt, Dichter in einer Person vorstellen. Er ist auch so etwas wie Gerdis Schutzpatron. »Nichts war mir fremd in Indien; es war mir, als sei ich heim gekommen«, sagte sie mir. Es ist für sie kein Zufall, dass ihr Krankenhaus im Stammland des Agasthiya zu Stande kommt. Wissenschaftlich wird man Gerdis geistige Heimkehr als déja-vu-Erlebnis bezeichnen.

Nomen est omen. Gerdi Gutperle ist geradezu dazu bestimmt, Gutes zu tun. Sie, meine Damen und Herren, können sich ihr anschließen. Dafür lobe ich Sie im Voraus. Gerdi aber wünsche ich allen Erfolg – ihrem Krankenhaus und ihrer Malerei.

Ich danke fürs Zuhören.

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