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2008: Prof. Dr. David Galloway

2008, „Ursprünge des Lebens“, Prof. David Galloway


Die gemalten Topografien von Gerdi Gutperle.

 
Die Werke von Gerdi Gutperle entstehen in einem Akt der Leidenschaft, der sich am besten mit dem Wort „furioso“ beschreiben lässt. In ihrer direkten, fast choreographischen Herangehensweise an die Kunst der Malerei nutzt sie praktisch jedes Werkzeug, das ihr zur Verfügung steht: Bürsten, Schwämme, Spachtel, Roller und Suppenkellen. Neben Fotografien, Computer-Ausdrucken, Acrylmalerei, Ölmalerei und Lasuren können ihre Arbeiten sogar Sand als Beimischung enthalten, was ihnen tastbare, reliefartige Oberflächen verleiht. Man könnte hier an eine Topographie der Malerei denken – vielleicht sogar an eine Art visuelle Archäologie, bei der das Gemälde selbst eine „Ausgrabungsstätte“ ist, deren Geheimnisse abwechselnd verborgen und ans Licht gebracht werden. Bevor wir uns nun näher mit diesem vielgestaltigen Oeuvre beschäftigen, mag es von Nutzen sein, seine generelle Beziehung zu den sich wandelnden Taktiken und Techniken des malerischen Ausdrucks zu untersuchen. Wurde die Kunst der Malerei einst mit strikten, altehrwürdigen Prozessen assoziiert, die ein Lehrer an seine Schüler weitergab, so hat die Moderne nicht nur eine „Demokratisierung“ der Zielgruppe, sondern auch der Utensilien dieser Kunst erlebt. Wenngleich es beispielsweise immer noch Skeptiker gibt, denen es widerstrebt, wenn ein Künstler elektronische Medien einsetzt, wird doch gemeinhin und in aller Regel akzeptiert, dass es dem Künstler freigestellt ist, sein eigenes visuelles Vokabular nach Belieben zusammenzustellen.

In dem Auf und Ab der -ismen und Idiome, die die Kunst des vergangenen Jahrhunderts prägten, war das Interesse des Künstlers an neuen Werkzeugen und Materialien tatsächlich eine der wenigen Konstanten. (Die Beschreibung „Mixed Media“ ist längst zu einer Standardbeschreibung auf Museumsschildern geworden.) Als symbolhaft für diese stille, aber beständige Revolution wird manchmal Pablo Picassos erste Assemblage gesehen, sein „Stillleben mit Rohrstuhl“ aus dem Jahr 1912. Nachdem Picasso in jenem Jahr bereits mit Collagen experimentiert hatte, bezog er nun reale, dreidimensionale Objekte – Wachstuch und ein Stück Seil – in eine Bildkomposition mit ein. Später trieb der Amerikaner Robert Rauschenberg diesen Geist der Einbeziehung in seinen bravourösen Werken, die er als „Combines“ bezeichnete, ins logische Extrem. Eine ausgestopfte Ziege oder ein ausgestopftes Huhn, ein gebrauchter Reifen, ein Absperrschild, zerlegte Kartons und zerschlissene Koffer gehörten zu den ungewöhnlichen Ingredienzien seiner umfänglichen, alles umfassenden Formensprache. Wie viele seiner Zeitgenossen, einschließlich Andy Warhol, bediente sich Rauschenberg auch neuer kommerzieller Drucktechniken, ohne das „altmodische“ Medium der Malerei ganz aufzugeben. Vielmehr existierten Altes und Neues Seite an Seite, in einer erstaunlich fruchtbaren Synthese.

Die modernistische Experimentierfreudigkeit bleibt auch in unserer Zeit eine wichtige Kraft. Und sie hat erheblich dazu beigetragen, dass die einstige Trennung zwischen den schönen Künsten und der Populärkunst, zwischen Kunstakademie und Straße, zwischen Museum und Alltagsleben mehr und mehr verschwindet. Der britische Autor Aldous Huxley wandte sich einst gegen die, wie er es nannte, „Genfer Konventionen des Geistes“, die alles, was der Mensch unternehme, in genau festgelegte, ordentlich aufgeräumte Schubladen einsortierten und diejenigen zensierten, die diese Ordnung verletzten. Ähnlich beklagte der Schriftsteller und Philosoph C. P. Snow in seiner These von den „zwei Kulturen“ die zunehmende Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst und wies auf die Gefahren hin, die der Zivilisation drohten, wenn Kunst und Wissenschaft noch weiter auseinander drifteten. Seither haben visuelle und Performance-Künstler mehr als genug getan, um diese Kluft zu schließen. In der Tat könnte man den Künstler als eine Art Prophet betrachten, der, indem er sich der Klassifikation verweigerte, den Weg zu einer Kultur der Integration und Offenheit gewiesen hat. Heute spricht man leichthin von „Crossover“, „Fusion“ und „Globalisierung“, ohne zu erkennen, welch wichtige Rolle der Künstler als Pionier dieser neuen Geisteshaltung gespielt hat. (Tatsächlich hat die zeitgenössische Kunstwelt mit ihrer Überfülle an Messen, Biennalen und sonstigen internationalen Veranstaltungen eine Art neuen Nomaden geschaffen: den jet-settenden Künstler, der sich ständig zwischen Kontinenten und Kulturen hin- und herbewegt.) Die Anerkennung dieser Rolle bedeutet nicht unbedingt eine uneingeschränkte Akzeptanz der „Tradition des Neuen“. Innovation um der Innovation willen ist selten produktiv, und neuen Wein in alte Schläuche zu füllen ist immer noch eine vollkommen legitime Praxis. Zudem machen neue Werkzeuge und Materialien die älteren selten obsolet. Konrad Klapheck fertigt die Skizzen für seine Bilder immer noch mit Holzkohle von der Art an, wie sie schon die Künstler von Lascaux verwendeten. Und zur selben Zeit, als Roy Lichtenstein und Andy Warhol mit den neuen, schnell trocknenden Acrylfarben experimentierten, die 1956 in Amerika auf den Markt kamen, stellte Jasper Johns seine Zielscheiben und Flaggen als Enkaustik-Arbeiten her. Die Enkaustik, bei der Farbpigmente in Wachs gebunden werden, ist eine der ältesten und aufwändigsten Techniken, die dem Künstler zur Verfügung stehen – eine Technik, die eine Blüte mit den Porträts erreichte, die zwischen 3000 und 1000 v. Chr. in der ägyptischen Oase Fayum entstanden. Obwohl heute nur noch selten verwendet, hat die Enkaustik nichts von ihrer Gültigkeit als kreatives Medium verloren und wird aufgrund ihrer subtilen Farbtöne, ihrer Tiefe, ihres seidigen Schimmers und ihres sinnlichen Impastos geschätzt. Doch war eine solche Technik eben kaum geeignet, um den glatten, flachen, scharfkantigen Look von Werbeanzeigen zu imitieren, der die Pop-Art-Künstler so sehr faszinierte.

Hier können wir eines der Hauptmotive extrahieren, die den Künstler dazu bewegen, seinen Vorrat an Materialien auszuweiten: den Glauben, dass neue Medien, selbst wenn sie ursprünglich für ganz andere Zwecke gedacht waren, seinen Intentionen besser gerecht werden können. Deshalb haben Künstler wie Petrus Wandrey, Holger Bär und George Pusenkoff den Computer als unersetzlichen Gehilfen gewählt, der sie bei der Entwicklung eines kühn gepixelten visuellen Vokabulars unterstützt, das ihrer Ansicht nach dem Informationszeitalter entspricht, in dem wir leben. Manchmal ist es zweifellos der Wunsch nach Rebellion oder vielleicht auch der reine Kick des Experimentierens, des Austestens der Grenzen der Innovation, der zu einer Abkehr von den konventionellen Methoden der schönen Künste führt. Auch die Notwendigkeit, die produktive Mutter der Erfindung, mag eine gewisse Rolle spielen. Die amerikanischen abstrakten Expressionisten – darunter Franz Kline und Jackson Pollock – verwendeten oft billige Anstrichfarbe, weil sie sich nichts Besseres leisten konnten. Pollock vermengte zudem seine Farbe mit Sand und Erde und streute regelmäßig Zigarettenasche oder gar ganze Kippen auf die nasse Oberfläche eines entstehenden Werks. Die Ergebnisse solcher Vorgehensweisen sind der Alptraum jedes Restaurators, doch angesichts Dieter Roths verderblicher Kompositionen aus Schokolade oder Salami wirken die damit verbundenen Probleme noch verschwindend gering.

Gerdi Gutperle ist weder Revolutionärin noch Innovatorin im herkömmlichen Sinn, wenngleich ihre „Paint-Print-Paint“-Technik, bei der ein gemaltes Bild fotografiert, in den Computer eingegeben und manipuliert wird, um als Basis für ein neues Bild zu dienen, beeindruckende Innovationskraft verrät. Als Gutperle mit dem Computer zu arbeiten begann, schuf sie neue Kompositionen, indem sie Fotografien mehrerer verschiedener Bilder übereinander legte. Doch was, so mag man fragen, soll diese komplizierte und zeitaufwändige Vorgehensweise bewirken? Wie die Künstlerin selbst sagt, hat das ganze Verfahren nur ein einziges Ziel: „ein Bild zum Leuchten zu bringen“. In dem Bestreben, dieses transzendente Ziel zu erreichen, setzt sie absolut jedes Mittel ein, das ihr zur Verfügung steht. Manchmal dient eine ihrer eigenen Fotografien als Ausgangspunkt – aufgenommen in Indien oder Peru oder auch einfach im Weingarten neben ihrem Haus. (Sie selbst spricht von der „Vermählung von Fotografie und Gemälde“, die in der modernen und zeitgenössischen Kunst ebenfalls ein wichtiger experimenteller Impuls ist. Weit davon entfernt, das Ende der Malerei einzuläuten, wie viele der Propheten des 19. Jahrhunderts vorhergesagt hatten, hat die Fotografie der Malerei vielmehr oft als einfallsreiche Mitarbeiterin gedient.) In vielen Fällen ist die fotografische Ursprungsquelle so stark übermalt, dass vom Original nur noch wenig bleibt, wenngleich es trotzdem als grundlegende Struktur dient. Davon abgesehen arbeitet die Künstlerin intuitiv, reagiert mit spontanen Gesten auf innere Visionen. Erst wenn sie mit dieser visuellen Artikulation zufrieden ist, erst wenn die notwendige Harmonie zwischen den Bildelementen hergestellt ist, legt sie ihr Handwerkszeug beiseite und gibt dem Werk einen Titel, der ihre Intention versinnbildlicht: „Lichte Flora“, „Impuls“ oder „Ohne Grenze“.

In ihrem Streben nach jenem Moment der Vollendung bringt die Künstlerin eine ganze Reihe unkonventioneller Werkzeuge ins Spiel – einschließlich der Suppenkelle, mit der Farbe auf die Bildoberfläche geklatscht werden kann, sodass eine dokumentarische Spur des intuitiven Prozesses zurückbleibt, in dessen Verlauf das Werk entstanden ist. Ergänzt werden diese spontanen Aktionen durch die Verwendung des Computers als rationales, analytisches Werkzeug. In den vollendeten Werken mögen noch realistische Elemente sichtbar sein – eine Landschaft, eine Klippe in Peru, eine Galapagos-Riesenschildkröte, ein Kaktus –, doch spielen diese nur eine untergeordnete Rolle für die Gesamtwirkung: für jene unerlässliche Aura, jenes „Leuchten“, das Gutperle ihren Kompositionen entlocken will. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch ihre Vorliebe für warme, gar feurige Rot- und Orangetöne, zu denen die Künstlerin teilweise durch ihre Indienreisen inspiriert wurde, wenngleich es auch faszinierende Werke in kühlen Blau- und Grüntönen gibt. Allen Werken gemeinsam ist jedoch der Eindruck von Licht und Rhythmus, Energie und räumlicher Tiefe, aber auch von Rätselhaftigkeit und Transzendenz. Eine solche Ästhetik gewinnt in den frei stehenden, bemalten Paravents, die die Künstlerin geschaffen hat, noch zusätzliche, verblüffend architektonische Präsenz. Von den außergewöhnlichen „Blumenporträts“, mit denen ihre Karriere begann, bis zu den lyrischen Halbabstraktionen, die ihre neueren Arbeiten auszeichnen, hat Gerdi Gutperle eine bemerkenswerte künstlerische Laufbahn zurückgelegt. Und man spürt, dass ihre Reise auch in Zukunft unweigerlich hinter die bekannten Horizonte führen wird.

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